
02 Mrz Leserbrief zu Artikel in Stuttgarter Zeitung
Leserbrief zu Ihrem Artikel vom 27.2.2017 „Der Hauptnutzen ist ästhetischer Natur“ auf Seite 4 bzw. zu Ihrem Titelthema „Der Streit über die Zahnspangen“
Wunderbar, wie Sie in einer Welt voller Verunsicherung für noch mehr Verunsicherung sorgen. In diesem Fall für die Verunsicherung der Eltern in diesem Land, ob Sie für Ihre Kinder das Richtige tun. Indem Sie einem einzigen Kollegen Gehör verschaffen, dessen eigene wissenschaftliche Evidenz darin besteht, sich bundesweit in der medialen Aufmerksamkeit eines Pseudo-„Whistleblowers“ zu sonnen. Sie können auch echte Wissenschaftler finden, welche die Schuld des Menschen an der Erderwärmung anzweifeln.
Kollege Madsen vertritt die Mindermeinung von ca. einem Promille der Kollegenschaft. Er selbst hat nicht wissenschaftlich geforscht, nur Studien welche seiner Meinung entsprechen zusammengefasst, hat keinen Lehrstuhl und zweifelt offensichtlich an seiner eigenen Profession. Es mag ehrenwert sein, das eigene Tun und die Sinnhaftigkeit dessen ab und an in Frage zu stellen. Zweifle ich daran, ist die eine Konsequenz besser zu werden und sich noch mehr anzustrengen um für die eigenen Patienten die bestmögliche (oder eben keine) Behandlung zu wählen. Wählt man aber die andere Konsequenz und kommt zu dem Schluss, dass das eigene (zahn-)ärztliche kieferorthopädische Tun nur der Ästhetik dient, also „Wellness“ entspricht, so muss man sich fragen ob es nicht besser ist, seine Praxis zu schließen und einen anderen Beruf zu wählen. Macht er aber auch nicht.
Schnellere, günstigere Behandlungen innerhalb von 2 Jahren sind ab einem Alter von 12-14 Jahren natürlich möglich. Dann müssen jedoch häufiger bleibende Zähne gezogen werden um die Zähne zu begradigen und den Biss zu korrigieren, da der Kiefer in diesem Alter nur noch wenig wächst oder der Zeitraum zu kurz ist. Dann werden nur die Zähne gerade gestellt und wir haben wirklich eine Behandlung, welche nur der Ästhetik dient. Das ist gerade das, was Kollege Madsen kritisiert, anderseits wiederum propagiert.
Wollen wir das Kieferwachstum steuern, Platz gewinnen, das Kiefergelenk und das muskulo-skelettale System in die Behandlung einbeziehen, so dauert es leider häufig länger und wird aufwändiger. Zudem wird teilweise eine sogenannte Frühbehandlung zwischen dem Alter von 6 und 9 Jahren notwendig, da hier das Wachstum noch besser gefördert werden kann.
Zusammenhänge zwischen orthopädischen Problemen und Kieferfehlstellungen sind zudem in Einzelfällen mittlerweile unstrittig. Zunehmend überweisen Orthopäden und Osteopathen die Patienten zum Kieferorthopäden, weil der Biss nicht stimmt und sie deshalb mit der Behandlung an der Wirbelsäule keinen dauerhaften Erfolg erzielen können. HNO-Kollegen überweisen Patienten weil sie eine Kieferfehlstellung haben, welche die Luftwege einengt und die Patienten daher schnarchen. Dass sich starkes Schnarchen („Schlafapnoe“) negativ auf das Herz-Kreislaufsystem und die Konzentration auswirkt, ist unstrittig bewiesen. Es gibt viele andere Beispiele für ganzheitliche Wechselwirkungen und sinnvolle, erfolgreiche interdisziplinäre Behandlungen, welche diesen Rahmen hier sprengen würden.
Die Studien über Zusammenhänge zwischen Kiefer und Körper mehren sich. Richtig ist jedoch, wie Frau Prof. Dr. Kahl-Nieke schon konstatiert hat, dass die sogenannte evidenzbasierte Studienlage nicht eindeutig ist. Warum ist das so? In meinen Augen liegt das daran, dass es in einem so komplexen System wie dem menschlichen Kausystem keine einzelne lineare Ursache-Wirkung Beziehung gibt. Die Komplexität ist hoch, gerade weil das Kausystem in Wechselbeziehung mit dem Rest des Körpers und der Psyche steht. Durch die Vielzahl an skelettalen, muskulären und neurologischen Zusammenhängen und Regelkreisen ist es extrem schwierig ein Studiendesign aufzubauen, welches der evidenzbasierten Wissenschaft genügt. Zu viele Parameter machen jegliche Signifikanz zunichte. Zudem ist die Frage welche Patienten für die notwendige unbehandelte Kontrollgruppe keine Behandlung bekommen. Darüber möchte ich nicht entscheiden müssen.
Letztendlich ist es so, dass jeder Mensch einzigartig ist. Daher führt dieselbe Kieferfehlstellung bei dem einen Menschen zu Problemen und bei dem anderen nicht. Nur ist es nicht möglich vorherzusagen bei welchem Patienten der Fall eintritt. Ist es ethisch daher beide nicht zu behandeln? Und selbst wenn es so ist, dass ein Jugendlicher oder ein Erwachsener keine körperlichen Beschwerden hat, sich aber durch seine Zahnfehlstellung unwohl fühlt, nicht mehr gerne lacht oder sich nicht gerne fotografieren lässt – was ist daran verwerflich, ihm oder ihr zu helfen und die Zähne zu korrigieren?
Wir müssen letztendlich jeden Patienten individuell untersuchen, seine Zahnfehlstellungen beurteilen, seine Beschwerden in den Kontext einbeziehen und seine Wünsche und Sorgen ernst nehmen. Dann können wir – wenn notwendig – eine gute, individuelle und sinnvolle Behandlung anbieten und durchführen. Auf welchem Weg und in welchem Umfang entscheidet der Patient nach umfassender Aufklärung immer selbst mit. Ich bin der Überzeugung dass die meisten Kollegen genauso verantwortungsvoll handeln.
Dr. Günter Lang, Leonberg